Grosse psychische Belastung für bedrohte Brienzer Bevölkerung
«Bereiten sie sich bitte umgehend auf eine Evakuierung vor», sagte Pascal Porchet, Leiter des kantonalen Amts für Militär und Zivilschutz am Samstagabend vor der Betroffenen in Tiefencastel GR. Es solle alles mitgenommen werden, was mit Geld nicht ersetzt werden könne. Möglicherweise können die Bewohnerinnen und Bewohner mehrere Monate nicht mehr in ihre Häuser zurückkehren.
Die Stimmung bei den Betroffenen war angespannt. Die erneute Zuspitzung der Lage versetze die Brienzerinnen und Brienzer unter grossen psychischen Druck, hiess es aus den Rängen. «Wie lange wollen sie uns das noch zumuten?», fragte ein Bewohner.
Ein anderer bat die Gemeinde, den Schritt der erneuten möglichen Evakuierung zu überdenken. Ein Landwirt klagte, er wisse nicht, wohin mit seinen Tieren, insbesondere weil der Winter bevorstehe. Die letzte Evakuierung hatte im Frühling 2023 stattgefunden.
Situation nicht vergleichbar mit Juni 2023
Die 1,2 Millionen Kubikmeter absturzgefährdeten Gesteinsmassen seien im Vergleich zum letzten grossen Ereignis vom 16. Juni 2023 sehr feucht, sagte der Leiter des Frühwarndienstes Stefan Schneider. Deshalb müsse davon ausgegangen werden, dass sie schneller abrutschen und weiter ins Dorf vordringen könnten. Es könnten Geschwindigkeiten von über 80 Stundenkilometern erreicht werden.
Vor rund eineinhalb Jahren gingen 1,2 Millionen Kubikmeter Fels als eher trockener Schuttstrom ab. Er stoppte jedoch kurz vor dem Dorf und verschonte dieses. Anfangs Juli 2023 konnten die Brienzerinnen und Brienzer nach rund eineinhalb Monaten in ihre Häuser zurückkehren.
Der oberste Teil der Schutthalde, die sich damals über Brienz gebildet hatte, beschleunigte sich zuletzt massiv. Die Gemeinde rief deshalb am Samstagmorgen die «Phase Gelb» aus. Damit wird eine Evakuierung vorbereitet. Eine solche könne sich über mehrere Tage hinziehen, so Porchet weiter.
Weil der absturzgefährdete Teil aber stark auf Niederschläge reagiere, könne es auch schnell gehen und die Betroffenen müssten ihre Häuser innert Stunden, oder im Notfall sofort verlassen. Möglicherweise trete das Ereignis schon in den kommenden Tagen ein. Es bestehe aber auch die Hoffnung, dass die Gesteinsmassen langsam in flacheres Gelände abrutschen und somit vor dem Dorf liegen bleiben.
Behörden versuchen zu beruhigen
Der Gemeindepräsident Daniel Albertin versuchte die Betroffenen zu beruhigen: «Sie können auf unsere Solidarität vertrauen.» Er verwies auf den laufenden Bau des 2,3 Kilometer langen und 40 Millionen Franken teuren Entwässerungsstollens unterhalb des Dorfes. Dieser soll die Landmasse entwässern und so den Druck auf die Rutschungen reduzieren. Die Behörden hätten deshalb den Glauben nicht verloren, die Heimat zu erhalten, so Albertin weiter.
Dennoch musste er sich der Kritik stellen, nicht auf existenzielle Fragen zu antworten. Die Wohnbedingungen seien katastrophal, so ein weiterer Betroffener. Das gesamte Dorf rutscht derzeit 2,4 Meter pro Jahr talwärts. Die Häuser seien deshalb teilweise stark beschädigt. Türen würden nicht mehr schliessen, die Kanalisation funktioniere nicht mehr einwandfrei. Die rechtliche Lage sieht jedoch vor, erst Totalschäden finanziell zu entschädigen.
Zwischenzeitlich ist für die Betroffenen ein Fonds mit mehreren Millionen Franken eingerichtet worden, der diese Schäden decken soll. Dieses Geld fliesse allerdings erst, wenn das Dorf nicht mehr als 10 cm pro Jahr rutsche, erklärte ein Vertreter der kantonalen Gebäudeversicherung der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Dieses Ziel könnte aber erst in mehreren Jahren erreicht werden, sagte der Geologe und Leiter des Brienzer Frühwarndienstes, Stefan Schneider. Der Stollen soll Ende 2027 fertig sein. Seine Wirkung werde sich aber erst sukzessive entfalten.