Viele Hundert Jahre Haft in Mammutprozess gegen Mafia
Die höchsten Strafen gab es gegen zwei Bosse der Verbrecherorganisation 'Ndrangheta, die jeweils für 30 Jahre ins Gefängnis müssen. Verurteilt wurde auch ein ehemaliger Abgeordneter der Regierungspartei Forza Italia: Der konservative Politiker Giancarlo Pittelli muss für elf Jahre hinter Gitter, weil er in Diensten der Mafia stand. Ins Gefängnis kommen auch mehrere Ex-Polizisten und andere korrupte Beamte.
In dem spektakulären Verfahren mussten sich seit Anfang 2021 in der Stadt Lamezia Terme mehr als 300 mutmassliche Mitglieder oder Helfer der Mafia verantworten. Die Staatsanwaltschaft forderte insgesamt mehr als 4700 Jahre Gefängnis.
Das Gericht unter Vorsitz von Richterin Brigida Cavasino folgte dem auch weitgehend. Die Verlesung der Urteile zog sich über mehrere Stunden hin. Die Vorwürfe lauteten von Mord und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung über Drogenhandel und Geldwäsche bis hin zu Korruption bei staatlichen Bauaufträgen - praktisch das volle Programm.
Die 'Ndrangheta aus Kalabrien war früher in Italien nur die Nummer drei der verschiedenen Mafia-Organisationen, hinter der Cosa Nostra aus Sizilien und der Camorra aus Neapel. Heute ist sie mit Abstand die mächtigste Verbrechergruppe, mit Verbindungen in alle Welt. Das Geschäft mit Kokain in Europa ist nach Einschätzung von Experten weitestgehend in ihrer Hand. Ihr weltweiter Umsatz wird auf mehr als 50 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.
Mit dem Prozess wollte der italienische Staat deutlich machen, dass er sich mit dem Wirken der Mafia nicht abfinden will. Grundlage dafür waren Aussagen mehr als 50 verschiedener Kronzeugen, die der 'Ndrangheta abgeschworen haben. Viele leben heute in Zeugenschutzprogrammen.
Normalerweise gilt in der Mafia das «Gesetz des Schweigens» - also, dass niemand Aussagen macht. Nach Einschätzung von Experten besteht die 'Ndrangheta aus etwa 150 Familien. In den 1980er-Jahren standen auf Sizilien schon einmal mehr als 400 Angehörige der Mafia-Organisation Cosa Nostra vor Gericht.
Der Prozess richtete sich vor allem gegen den Clan der Familie Mancuso, einer der Zweige. Die beiden örtlichen Bosse Saverio Razionale und Domenico Bonavota wurden zu je 30 Jahren verurteilt.
Das Urteil gegen den obersten mutmasslichen Clan-Boss Luigi Mancuso steht allerdings noch aus. Sein Verfahren wurde von dem Mammutprozess abgetrennt. Luigi Mancuso wurde «Der Onkel» genannt. Andere trugen Spitznamen wie «Wolf», «Lammkeule» oder «Fettsack» - wie in einem der grossen Hollywood-Filme.
Insgesamt standen 338 Angeklagte vor Gericht - auch Politiker und Beamte, die der 'Ndrangheta gegen Geld gefällig standen. Prominentester Fall war der Ex-Abgeordnete Pittelli von der Forza Italia, die heute in Rom der kleinste Partner in einer Koalition aus drei Rechtsparteien ist. Gegründet wurde sie vom im Juni verstorbenen Ex-Regierungschef Silvio Berlusconi.
Die Staatsanwaltschaft hatte für Pittelli sogar 17 Jahre Haft beantragt - es wurden elf. Ein Ex-Bürgermeister, den die Staatsanwaltschaft 18 Jahre hinter Gitter bringen wollte, wurde freigesprochen.
Wegen der enormen Dimension des Prozesses war in Lamezia Terme eigens ein Callcenter in ein Hochsicherheitstrakt umgebaut worden - mit einem Gerichtssaal von mehr als 100 Meter Länge, 35 Meter Breite und vergitterten Zellen. Damit sich Richter, Anwälte, Zeugen und Mafiosi nicht zufällig über den Weg laufen, gab es sogar getrennte Toiletten: 32 davon.
Dass der Prozess überhaupt zustande kam, ist der Verdienst von Oberstaatsanwalt Nicola Gratteri. Der 65-Jährige kämpft seit mehr als drei Jahrzehnten gegen die Mafia. Nach jahrelangen Ermittlungen liess er kurz vor Weihnachten 2019 Hunderte mutmassliche Mafiosi und Helfer verhaften.
Die Polizei war an jenem Dezembermorgen mit 3000 Carabinieri im Einsatz. Damit die Mafia von Zuträgern im Staatsdienst nicht gewarnt werden konnte, liess Gratteri die Haftbefehle im Ausland kopieren.
Die Razzia und auch der Prozess liefen in Italien unter dem Namen «Rinascia Scott»: Rinascia bedeutet Wiedergeburt, Sieben William Scott war der Name eines US-Drogenfahnders, der einst in Rom auf Posten war.
Von Scott soll Gratteri erläutert bekommen haben, wie das Geschäft mit Kokain zwischen Kolumbien und Kalabrien funktioniert. Er starb 2013. Gratteri selbst gab noch während des Prozesses die Rolle als Chefankläger ab. Inzwischen ist er oberster Staatsanwalt in Neapel - und steht nach wie vor unter strengstem Schutz.