Der wahre Gradmesser kommt erst noch
Dass nach einem 4:0-Sieg kaum jemand eine Miene verzieht, versteht sich von selbst. Xherdan Shaqiri wirkte jedoch besonders gelöst. «Spiel gewonnen, gut gespielt, kein Tor erhalten - es war ein guter Tag im Office», fasste der 32-Jährige die Partie gegen Estland zusammen. Selbst als er auf die Penalty-Szene angesprochen wurde, grinste Shaqiri. Er habe nicht genau mitbekommen, weshalb er nach dem zunächst abgewehrten Versuch noch einmal antreten durfte. «Der Torhüter hat sich zu früh nach vorne bewegt? Nur deshalb hat er ihn gehalten!»
Der Angreifer von Chicago Fire reihte sich im Spiel in Luzern in die Liste der Schweizer Torschützen ein, die alle ein Erfolgserlebnis gut gebrauchen konnten. Denn Shaqiris Saisonstart in der Major League Soccer verlief nicht nach Wunsch, sein Team kam wochenlang nicht vom Fleck. Als Captain und einer der bestbezahlten Spieler der Liga musste der Schweizer oft den Kopf hinhalten.
Auch Nico Elvedi, der sich mit Borussia Mönchengladbach plötzlich im Abstiegskampf wiederfand, und Zeki Amdouni, der mit Burnley aus der Premier League abstieg, hatten bei ihren Klubs keine leichte Zeit. Derweil konnte sich Steven Zuber nach längerer Abwesenheit im Nationalteam mit einem Treffer den Frust von der Seele schiessen.
Wieder eine Wohlfühloase
Die Nationalmannschaft als Wohlfühloase? Lange war es nicht mehr so gewesen. In der EM-Qualifikation hatten sich die Schweizer gegen «kleinere Gegner» wiederholt schwer getan und viel Kritik einstecken müssen.
So wie die Kritik manchmal zu heftig ausfiel, wäre nun überschwängliches Lob übertrieben. Estland war ein äusserst bescheidener Gegner und keineswegs ein Gradmesser für die EM in Deutschland. Die Nummer 123 der Weltrangliste, die seit eineinhalb Jahren auf einen Sieg wartet, beendete die EM-Qualifikation nach acht Spielen mit einem Punkt und einem Torverhältnis von 2:22. An der Endrunde warten andere Kaliber.
Das wissen auch die Spieler. «Nach einem 4:0 sind natürlich alle glücklich», sagte Zuber. «Uns ist jedoch bewusst, dass nicht alles top war.» Vor allem in der zweiten Hälfte der ersten Halbzeit schienen den Schweizer Stürmern gegen die tief stehenden Esten etwas die Ideen auszugehen. Der frühe Führungstreffer in der zweiten Halbzeit nahm dann viel Druck aus dem Spiel. Am Ende erfüllte der Test seinen Zweck. Er war eine lockere Einstimmung auf das grosse Turnier.
Österreich im Hoch
Bereits am Samstag wartet mit Österreich ein wahrer Gradmesser. Das von Ralf Rangnick trainierte Team weist nach dem Testspielsieg am Dienstag eine Serie von sechs Siegen in Serie auf. Unter den Gegnern waren mit Serbien (2:1), der Türkei (6:0), der Slowakei und Deutschland (je 2:0) gleich vier EM-Teilnehmer.
Grundsätzlich seien alle Spiele wichtig, sagte Amdouni, als er auf die bevorstehende Begegnung angesprochen wurde. «Aber das Spiel gegen Österreich ist sicher noch höher einzuschätzen. Es ist der letzte Test vor der Europameisterschaft. Es geht darum, die Automatismen zu finden, um beim Turnier bereit zu sein.» Es ist davon auszugehen, dass Yakin in St. Gallen mit jener Elf beginnen wird, die er auch für das Startspiel gegen Ungarn (Samstag, 15. Juni, in Köln) vorgesehen hat. Darauf festlegen wollte sich der Nationalcoach aber noch nicht.
Zuerst muss Yakin noch das definitive Aufgebot für die EM finden. Am Mittwoch reduzierte der Trainer das Kader auf 27 Spieler. Damit muss bis am Freitag, wenn die definitive Spielerliste bei der UEFA eingereicht werden muss, noch ein Akteur die Nationalmannschaft verlassen.