ZSC-Meistercoach Marc Crawford über die Rolle des Titelverteidigers
Es ist eine Geschichte aus seiner Kindheit, die Marc Crawford immer wieder erzählt. Die Familie geht Mitte Juli picknicken. Doch es wird nicht einfach gemütlich zusammengesessen und gegessen. Vielmehr nutzt sein Vater Salz- und Pfefferstreuer für Eishockey-Lektionen. Der inzwischen verstorbene Floyd Crawford wurde 1959 mit Kanada Weltmeister und war nach seiner Karriere bis ins hohe Alter Trainer.
Das zeigt, welche Rolle Eishockey in der Grossfamilie mit neun Kindern spielt(e). Nicht nur Marc Crawford schaffte als Spieler den Sprung in die NHL, sondern auch seine Brüder Bob und Lou. Ein weiterer Bruder, Eric, arbeitete als Staff-Mitglied in der NHL.
Marc Crawford war nach der Karriere als Spieler auch als Headcoach in der besten Eishockey-Liga der Welt tätig. 1996 führte er die Colorado Avalanche zum Stanley-Cup-Triumph. In der Saison zuvor erhielt er die Auszeichnung als NHL-Coach des Jahres. 2012 ging er ein erstes Mal zu den ZSC Lions, mit denen er 2014 den Meistertitel gewann. 2016 kehrte er nach Nordamerika zurück, ehe er Ende Dezember 2022 zum ZSC zurückkehrte. Im Frühjahr wurden die Lions zum zehnten Mal Meister.
«Das hält mich jung»
Crawford ist mittlerweile 63 Jahre alt. Dennoch hat er nichts von seiner Leidenschaft für das Eishockey verloren. «Ich geniesse es, um junge Leute herum zu sein. Das hält mich jung», sagt er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. «Du darfst dich so kleiden, wie sie es tun. Ich höre ihre Musik. Dadurch kriege ich ein Gefühl dafür, was in der nächsten Generation vorgeht. Ich bin immer wieder begeistert, die Ähnlichkeiten meiner und jener Generation vor mir zu sehen.»
Auf die Frage, in welchem Bereich er sich als Coach am meisten weiterentwickelt hat, antwortet Crawford: «Hoffentlich bei der Geduld und der Kommunikation. Die Instinkte haben sich entwickelt. Zudem lehrt die Erfahrung zu vertrauen. Ich entwickle mich allerdings immer noch weiter.»
Leute in Verlegenheit gebracht
Früher fiel es Crawford schwer, seine Emotionen zu managen. Das führte dazu, dass «ich zu inakzeptablen Worten und Taten gegriffen habe, in der Hoffnung, die Spieler zu motivieren», schrieb er Mitte Dezember 2019 in einem Statement, nachdem er zuvor von den Chicago Blackhawks, bei denen er als Trainerassistent amtete, suspendiert worden war. «Es war eine Zeitlang ein schmerzvoller Prozess für mich, weil ich viele Leute, die mir einiges bedeuten, in Verlegenheit brachte», gibt Crawford zu. «Nun ist ein Lebensziel, jeden Tag ein besserer Mensch zu werden. Ich bin weiterhin sehr selbstreflektiert.» Er wolle jedoch nicht mehr gross über diese Zeit reden.
Dass seine Tochter Katie eine Sportpsychologin ist und über Themen wie Leadership oder Teamwork geforscht hat, sei extrem hilfreich. «Jedes Mal, wenn wir etwas über uns selbst erfahren, lernen wir, wie der Verstand funktioniert», so Crawford, für den die mentale Gesundheit ein grosses Thema ist. Auch Sohn Dylan ist ihm eine grosse Hilfe. Er arbeitet bei den Vancouver Canucks als Video-Coach. Deshalb ist er vertraut mit statistischen Dingen. Marc Crawford schätzt es sehr, eine Perspektive von aussen zu erhalten. Den grössten Anteil am Erfolg schreibt er allerdings seiner Frau zu. «Sie versteht mich besser als ich mich selber.»
Spieler entscheiden
Dass der ZSC die Tabelle nach 16 Partien mit 14 Siegen souverän anführt, ist für ihn nicht nur aufgrund des exzellent besetzten Kaders wenig überraschend. «Nach einem Titelgewinn ist es einfacher, dass eine Mannschaft - vor allem zu Beginn einer Saison - gut spielt», sagt Crawford. «Die Spieler setzten all die Gewohnheiten um, die es braucht, um erfolgreich zu sein. Diese stehen dem Team nun ständig zur Verfügung, wenn auf diese Details geachtet wird. Das machen wir den Spielern bewusst. Wir regen sie an, darüber nachzudenken, wie sie spielen. Entweder werden sie besser oder schlechter. Niemand bleibt jemals derselbe.»
Für Crawford sind es nicht in erster Linie die Trainer, welche die Entscheide treffen, sondern die Spieler. Sie würden entscheiden, in welche Richtung es geht. Nach einem Sieg sei es vielleicht schwieriger, etwas zu finden, das verbessert werden kann. «Aber das gibt es normalerweise immer.»
Geniessen ebenso wichtig
Können sich die Lions nur selber schlagen? «Wir kennen unsere Möglichkeiten. Es wäre jedoch anmassend von uns, so zu denken. Es gab noch nie eine solche Breite in der Liga. Verschiedene Teams sind fähig, zu gewinnen. Es gilt, die Herausforderung anzunehmen, dass jemand versucht, besser zu sein als du. Das ist die Natur der Welt.»
Zurück zum Picknick der Familie. Crawford hat in diesem nicht nur etwas über Eishockey gelernt. Er wisse nun auch, dass es wichtig sei, das Picknick zu geniessen. «Es braucht Zeiten, in denen man sich ausruht und den anderen Aufmerksamkeit schenkt. Es ist schwierig zu schlafen, wenn stets über das Backchecking oder eine verpasste Chance nachgedacht wird», sagt Filme-Liebhaber Crawford. Grund zum Grübeln gibt es für ihn derzeit wenig.