Fischer: «Wir wissen, woher wir kommen»
Knapp acht Zeilen lang ist die Agentur-Meldung am 1. Juni 2018: «Urs Fischer wird Trainer bei Union Berlin.» Union? 2. Bundesliga? Die Meinung ist schnell gemacht: Ein zweifacher Meistercoach verschwindet in einem deutschen Fussball-Hinterhof. Fischer beantwortet die mediale Geringschätzung mit beeindruckender Leistung. Nach dem sofortigen Aufstieg startet er mit Union durch. Beim Auftakt der Ära ist seine Equipe mit knapp 30 Millionen Euro dotiert, seit der Champions-League-Qualifikation ist der Marktwert auf 200 Millionen hochgeschossen.
Der Umsatz hat sich vervielfacht, der Berliner Quartierverein spielt unvermittelt im Konzert der nationalen Tenöre mit. Erfolg wirkt anziehend. 56'000 Menschen sind inzwischen Mitglied des früheren DDR-Sportklubs. Und auf dem Transfermarkt ist Deutschlands Emporkömmling des Jahres inzwischen eine vorzügliche Adresse. Robin Gosens, deutscher Nationalspieler und beim Champions-League-Finalisten Inter Mailand zuletzt Stammkraft, ist der neue Berliner Königstransfer.
Traumhafte letzte Saison
«Surrealer Wahnsinn» - so in etwa beschreiben die Union-Entscheidungsträger ihre atemberaubende Entwicklung selber. Innert fünf Jahren hat der Verein aus dem Stadtteil Köpenick eine der besten Fussball-Geschichten Europas produziert. An der Alten Försterei werden gerade Träume wahr. Fünf Saisons nach dem Aufstieg bereitet sich der 1. FC Union Berlin auf den global wichtigsten Wettbewerb vor, derweil der frühere Platzhirsch Hertha am Ende der 2. Bundesliga einem nächsten monumentalen Debakel entgegentaumelt. Von einem europäischen Bonus will Fischer nichts wissen: «Auch in diesem Wettbewerb werden wir um jeden Punkt kämpfen!»
Der Taktgeber und Vorarbeiter bleibt in der Rückschau auf die grandiose letzte Saison bescheiden. «Wir haben natürlich auch davon profitiert, dass der eine oder andere schwächelte.» Sie seien allerdings bereit gewesen, sich ganz vorne einzureihen. In einer hinter dem Liga-Primus Bayern schwierigen Liga mit relativ vielen finanziell besser bestückten Konkurrenten hat Union im eigenen Stadion tiefe Spuren hinterlassen. Als einziger Verein verlor Union kein Heimspiel und gewann einen Punkt mehr als der Rekordmeister.
Die Füsse auf dem Boden
Urs Fischer ist das Gesicht des beispiellosen Aufschwungs. Er gibt den Rhythmus vor, unmissverständlich zwar, aber nie laut. Die Beobachter und Kommentatoren sind fasziniert von ihm - von einem Trainer, der keine PR-Tänze aufführt, der Pragmatismus verkörpert, der unaufgeregt führt. Dass er sich primär für die nächste Aufgabe interessiert, legt ihm niemand als Floskel aus. Das Unspektakuläre ist bei ihm nicht Programm, sondern entspricht seiner authentischen Art - pur, unverstellt, gradlinig, lösungsorientiert.
«Wieso sollte ich mich vom Naturell her verändern?» Der Zürcher bleibt sich selber treu. Kein Schritt vor dem anderen. «Klar habe ich dazu gelernt, klar mache ich nicht mehr alle Dinge so wie zu Beginn meiner Karriere.» Aber verrückt machen lässt sich der 57-Jährige nicht. Die imposanten Entwicklungsschübe der letzten Jahre, die unübersehbaren Begleiterscheinungen im Umfeld, der viel grössere Fokus bringen den Chef-Strategen nicht aus der Ruhe: «Ich bin zu lange im Geschäft. Ich weiss, wie schnell es in die andere Richtung gehen kann.»
Die Anfänge mit Favre
In Zürich, Thun und Basel haben ihn die meisten Mitarbeiter in bester Erinnerung. Fischer steht für Stabilität, für einen Plan, für hundertprozentige Loyalität zum Projekt. Und schon in der Schweiz ist er mit erstklassig strukturieren Teams aufgefallen. Die punktgenaue Ordnung kommt nicht von ungefähr. Während seiner Zeit als Rookie-Trainer auf der Zürcher Allmend Brunau dozierte der beste Lehrmeister in Sicht- und Hörweite: Lucien Favre. «Seine Akribie, sein taktischer Sinn. Das ist mir geblieben.»
An den Westschweizer Meistermacher und späteren Coach von Gladbach und Dortmund erinnert sich Fischer im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA im Detail: «In seinem ersten Jahr beim FCZ unterstützte ich Lucien als Teamcoach, als es damals noch nicht so rund gelaufen ist.»
Ein Teamplayer
Die ersten Jahre seiner Laufbahn haben ihn geprägt. Opportunistisch bedingte Zickzack-Kurse mag er nicht. Fischer schätzt eine Führungscrew, die im Sinne der Sache operiert. Damit liegt er mit Präsident Dirk Zingler und dem auffällig unaufgeregten Profifussball-Geschäftsführer Oliver Ruhnert auf einer Linie. «Der Verein lebt die gleichen Werte wie vor fünf Jahren. Er tickt noch gleich, auch wenn man sich anpassen muss. Wir sind noch die Gleichen und wissen, woher wir kommen», betont Fischer.
Er selber ist zuletzt mit Preisen überhäuft worden. Im «Kicker» wählten die Bundesliga-Profis und die Journalisten den Schweizer zum Trainer des Jahres. Die Awards sind eine Würdigung seiner fantastischen Berliner Aufbauarbeit. «Ohne Team im Rücken wirst du nicht ausgezeichnet.» Seit langer Zeit arbeitet der Preisgekrönte mit einem nahezu identischen Stab. Alle begegnen sich auf Augenhöhe, alle werden gebraucht. «Jeder Coach entscheidet, wie weit er gehen will. Aber wenn man anerkannte Spezialisten zur Verfügung hat und die Möglichkeit besitzt, sie ins Team zu integrieren, wärst du dumm, es nicht zu tun.»