Im Ski wäre Sinner klarer Favorit
Im Sextner Tal, am hintersten Ende des Südtirols an der Grenze zu Österreich fährt man Ski. Die Idole hier heissen Gustav Thöni, Alberto Tomba oder Dominik Paris. Bei Jannik Sinner war das nicht anders. 2008 war der Rotschopf italienischer Meister seiner Altersklasse im Riesenslalom. Doch der talentierte Junior war auch im Tennis ganz gut, fand jedenfalls Max Sartori, der Coach des ehemaligen Gstaad-Finalisten, der das Südtirol erst auf die Tennis-Landkarte gebracht hatte.
Sinner liess sich überzeugen, aus den Bergen und dem Schnee an die ligurische Küste in die Akademie von Startrainer Riccardo Piatti zu wechseln. Er dürfte den Entscheid nie bereut haben, im Skisport wäre er nicht mit 22 Jahren bereits bei 17 Millionen Dollar Preisgeld angelangt - und ob er schon der viertbeste weltweit wäre, ist ebenso fraglich. Ganz losgelassen hat ihn das Skivirus aber nicht.
Mit Paris mitgefiebert
In Melbourne sah seine Routine oft so aus: Am Abend setzte sich der Italiener im Hotel gerne hin und schaute - mitten im australischen Sommer - Skirennen. «Es ist ganz leicht, die Rennen hier zu verfolgen», verriet Sinner zu Beginn des Turniers. «Es läuft am Abend unserer Zeit, das ist perfekt.» Er habe sich sehr über den Sieg von Dominik Paris vor Weihnachten in Gröden gefreut. «Da war ich sehr emotional.» Und bei den Frauen seien sie mit Brignone und Goggia ja sowieso grossartig.
«Ein bisschen ist das ja schon noch in meinem Blut», meinte Sinner schmunzelnd. An Weihnachten postete er in den sozialen Medien sogar ein Video, wie er rasant eine Piste runterschwingt - ein Risiko, das zum Beispiel Roger Federer zumindest im zweiten Teil seiner Karriere nicht mehr eingehen mochte. Geschadet hat es dem Tennis des Südtirolers nicht, im Gegenteil. Als einziger Spieler erreichte Sinner in Melbourne die Halbfinals ohne Satzverlust. Er scheint bereit für die ultimative Herausforderung - und die heisst am Australian Open noch mehr als sonst schon üblich Novak Djokovic.
Djokovic seit sechs Jahren ungeschlagen
Auch der Grand-Slam-Rekordsieger ist in jungen Jahren Ski gefahren, als seine Eltern in den südserbischen Bergen eine Pizzeria betrieben und teilweise als Skilehrer arbeiteten. Auf Schnee könnte er seinem vierzehn Jahre jüngeren Herausforderer nicht das Wasser reichen, auf dem Tennisplatz sieht das anders aus. In der Rod Laver Arena ist Djokovic seit 2018 ungeschlagen und hat er schon zehn Mal den Turniersieg geholt. Bei keinem anderen Major-Event war er erfolgreicher.
Sinner ist neben Carlos Alcaraz, der Djokovic in einem grandiosen Wimbledonfinal eine von dessen seltenen Niederlagen zufügte, der einzige Spieler, dem zugetraut wird, die Weltnummer 1 im Idealfall bremsen zu können.
Im Herbst zweimal gegen Djokovic gewonnen
Zwei Sachen sprechen für Jannik Sinner. Zum einen hat er bisher deutlich den stärkeren Eindruck hinterlassen. Djokovic gab bereits dreimal einen Satz ab und stand insgesamt fast vier Stunden (15:11) länger auf dem Platz als der Italiener. Zum anderen machte Sinner im letzten Herbst einen grossen Schritt nach vorne und feierte an den ATP Finals in Turin (wo er dann allerdings den Final klar verlor) und im Davis-Cup-Halbfinal in Malaga (nach drei abgewehrten Matchbällen) seine ersten zwei Siege gegen Djokovic.
Der Favorit ist Sinner am Freitag deshalb nicht, doch er wird an seine Chance glauben, Djokovics unglaubliche Serie reissen zu lassen. Der Serbe steht zum elften Mal im Halbfinal des Australian Open, bisher hat er das Turnier jedes Mal auch gewonnen, wenn er so weit gekommen war. «Ich weiss, es wird hart», macht sich Sinner keine Illusionen. «Aber genau für diese Matches trainiere ich. Ich freue mich ganz ehrlich darauf.» Der Italiener wird vor allem hoffen, dass es besser läuft als in seinem bisher einzigen Grand-Slam-Halbfinal (3:6, 4:6, 6:7 in Wimbledon gegen Djokovic). Sonst müsste er ihn vielleicht mal auf Ski herauszufordern.