Jannik Sinner und die Schattenseiten des Tennislebens
Das Bild des äusserlich strahlenden Jannik Sinner im Konfettiregen täuscht. Der schlaksige Südtiroler war noch nie der Mann der überschwänglichen Emotionen. Nach seinem zweiten Grand-Slam-Triumph nach Melbourne im Januar zeigt er sich aber besonders nachdenklich. Sportlich ist er mit erst 23 Jahren auf dem Gipfel, doch die Freude ist nicht ungetrübt.
Die Diskussionen um die beiden positiven Dopingtests lasten trotz Freispruch auf den Schultern Sinners. Wenige Tage vor dem Start des US Open hatte die Öffentlichkeit erfahren, dass er im März während und nach dem Turnier in Indian Wells zweimal positiv auf das verbotene anabole Steroid Clostebol getestet wurde. Sinner wurde aber nicht wie die meisten Spieler in ähnlichen Fällen suspendiert, sondern durfte weiterspielen und wurde schliesslich von jeglicher Schuld freigesprochen. Er - und wohl auch seine Anwälte - konnten glaubhaft darlegen, dass die äusserst geringe Menge der Substanz bei einer Massage unabsichtlich in den Körper gelangt war.
Mental Widerständen getrotzt
Zwar glaubt kaum einer, dass Sinner tatsächlich in böser Absicht seine Leistung steigern wollte. Dennoch bleibt ein Schatten haften, störend war und ist für viele die Ungleichbehandlung. Auf dem Platz kann Sinner die Wirren ausblenden - wie schon im März, als er kurz nach der zunächst nur einem kleinen Kreis bekannten positiven Probe das Masters-1000-Turnier in Miami gewann.
Doch nach dem Final gibt er auch zu: "«Es war schon ein bisschen in meinem Gedanken, und ist es immer noch. Es ist nicht weg.» Es sei definitiv nicht einfach gewesen. Umso höher ist die mentale Leistung einzustufen, dass Sinner mit nur zwei verlorenen Sätzen als erster Italiener zum Sieg am US Open stürmte. Ganz abschütteln wird er die Dopinggeschichte allerdings wohl noch länger nicht können.
Sorgen um geliebte Tante
Noch schwerer lastete allerdings der Gedanke an seine Tante auf Sinners Gemüt. Er widmete ihr den Sieg und verriet, dass sie gesundheitlich ziemlich angeschlagen sei. «Sie ist eine sehr wichtige Person in meinem Leben.» Früher habe sie ihn oft zu den Skirennen gefahren, da seine Eltern im Berghotel jeden Tag gearbeitet hätten. «Auch im Sommer, wenn man als Jugendlicher ja nicht jeden Tag trainiert, habe ich viel Zeit mit ihr verbracht.» Sinner wuchs im Südtiroler Skiort Sexten auf und entschied sich erst relativ spät für eine Tenniskarriere.
Vor den Medien sinnierte der Rotschopf zu später New Yorker Zeit dann auch nachdenklich über die Schattenseiten des Lebens als Tennisprofi. «Während diesen schwierigen Monaten konnte ich auch wieder einmal feststellen, dass das wirkliche Leben etwas anderes ist als der Sport», sagte er. «Wir sind so viel unterwegs, da ist es schwierig, Zeit mit den Leuten zu verbringen, die du wirklich liebst. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich auf jeden Fall mehr mit den Menschen zusammen sein, die mir wirklich etwas bedeuten.»
Bald die grossen Zwei
Bedeutung hat Sinners Triumph in New York auch für die Tenniswelt. Erstmals seit 2002 gewann keiner aus dem Trio der grossen Drei - Novak Djokovic, Rafael Nadal und Roger Federer - in diesem Jahr ein Grand-Slam-Turnier. Auch wenn Djokovic mit dem Gewinn von Olympiagold nochmals ein grosses Ziel erreichte, ist der Umbruch zu einer neuen Generation wohl erfolgt.
Die grossen Titel gingen in diesem Jahr an den 23-jährigen Sinner (Australien, US Open) und den noch zwei Jahre jüngeren Carlos Alcaraz (French Open, Wimbledon). «Es ist schön, neue Champions und neue Rivalitäten zu sehen», findet der Italiener. «Das ist gut für den Sport.»
Und sorgt für Hoffnung bei den Gegnern. «Vielleicht ist es etwas offener geworden», hofft der unterlegene Finalist Taylor Fritz. «Du musst nicht unglaublich gut spielen, um in einem Turnier weit zu kommen.» Da könnte sich der Amerikaner allerdings täuschen. So wie Sinner und Alcaraz derzeit spielen, könnten sie des Tennis auf Jahre hinaus ähnlich dominieren wie zuvor die grossen Drei. Irgendwann wird sich dann auch Jannik Sinner wieder uneingeschränkt freuen können.