Justin Murisier ist mit gut 30 Jahren zum Speed-Fahrer mutiert
Mehreren schweren Knieverletzungen ist geschuldet, dass Murisier erst im Alter von 32 Jahren dort angelangt ist, wo ihn manche schon viel früher gesehen haben. Fast eineinhalb Jahrzehnte sind vergangen, seit der junge Walliser aus dem Val de Bagnes als das nächste ganz grosse Talent des Schweizer Skisports gepriesen wurde. Murisier sei mit 18 weiter als Daniel Albrecht und Carlo Janka im gleichen Alter, so die damalige Einschätzung von Trainern und Experten.
War das vielleicht in der Saison 2010/11 der Fall, war dem schon zwei Winter später nicht mehr so. 2011 und 2012 - sowie 2018 dann nochmals - riss sich Murisier jeweils in der Saisonvorbereitung das Kreuzband im rechten Knie. «Diese Verletzungen haben meine Entwicklung enorm gebremst», blickt der Athlet selbst ohne Wehmut zurück.
Konzentration auf eine Disziplin
«Wenn du zurückkommst, dann ist es besser, sich auf eine - deine stärkste - Disziplin zu konzentrieren. Bei mir war das der Riesenslalom.» Vor dem rasanten Aufstieg von Marco Odermatt und auch Loïc Meillard war es Murisier, der im Riesenslalom oftmals als einziger Schweizer in den ersten zehn vertreten war. Experimente in Super-G und Abfahrt lagen da nicht drin.
Dabei war nicht nur ihm, sondern auch den Trainern immer klar, dass Murisier von Haus aus ein Allrounder ist. Einer, der über die nötigen «Speed-Gene» verfügt. 2011 gewann der damals 19-Jährige bei der Junioren-WM in Crans-Montana im Super-G Bronze, in der Abfahrt blieb ihm nach Trainingsbestzeit wegen eines grossen Fehlers im Rennen eine WM-Medaille verwehrt.
Im zweiten Super-G schon Fünfter
Erst vor drei Jahren konnte Murisier endlich beginnen, sich Richtung Speed zu orientieren. «Viele ehemalige Athleten haben mir gesagt, dass ich sicher vor meinem 30. Geburtstag damit anfangen muss.» Murisier war 29, als er seinen ersten Super-G im Weltcup bestritt. Auch das erste Erfolgserlebnis stellte sich schnell ein. «Bereits in meinem zweiten Super-G wurde ich Fünfter.» Das war Anfang März 2021 in Saalbach.
Gehört Murisier im Super-G schon zu den besten zehn der Weltrangliste, so dauerte es in der Abfahrt länger, sich in der erweiterten Spitze zu etablieren. Erst 13 Monate ist es her, dass der Romand in der Königsdisziplin erstmals in die Top 10 fuhr, als Siebenter in Bormio. «In der Abfahrt ist die Erfahrung enorm wichtig. Du musst die Strecken zuerst kennenlernen. Klar hatte ich Beat (Feuz), der mir sehr viel geholfen hat. Auch Marco (Odermatt) tat dies, doch er war selber noch ein bisschen am Lernen.»
Gemeinsames Besichtigen von Strecken ist für Murisier und Odermatt, dem in der Zwischenzeit (auch) in der Abfahrt weltbesten Fahrer, Standard. Dabei tauschen der Walliser und der fast sechs Jahre jüngere Nidwaldner, die eine Freundschaft über den Sport hinaus verbindet, ihre Meinungen aus, wie man gewisse Passagen anders oder besser fahren könnte. «So hast du quasi zwei Feedbacks, dein eigenes und das des anderen. Diskussionen mit Marco über die Linienwahl sind spannend. Er hat immer wieder Ideen, wie man es doch auch versuchen und schneller sein könnte.» Dabei ist sich Murisier bewusst, dass er bei der Umsetzung solcher Ideen aufpassen muss. «Ich muss auf dem Boden bleiben. Ich bin nicht Marco.»
Auch mit Feuz in Kontakt
Mit dem vor Jahresfrist zurückgetretenen Beat Feuz hält Murisier ebenfalls den Kontakt: «Ich versuche immer bescheiden zu bleiben und von Top-Athleten zu lernen. Beat kann mir mit seiner grossen Erfahrung immer noch helfen.»
Auch Feuz schätzt den Austausch und hilft gerne mit, dass Murisier sein «grosses Potenzial» noch besser ausnutzen kann. «Justin fährt mit Head die gleiche Skimarke wie ich auch gefahren bin. Es geht dann um Themen wie lange oder kürzere Ski oder wenn er ein Problem hat, dass er gewisse Kurven zu schnell zu macht. Dann fragt er mich, was er ändern könnte.»
Der 16-fache Weltcup-Sieger sieht bei Murisier eine gute Entwicklung: «Justin wirkt auf der Piste nicht mehr so hektisch. Früher hat ihn viel Zeit gekostet, dass er die Schwünge immer wie ein Riesenslalom-Fahrer durchgezogen hat. Aber Abfahrt ist eben etwas anderes.» Dass Murisier schon 32 Jahre alt ist, «ist für einen Speed-Fahrer kein Problem», sagt Feuz. «Umso mehr, als Justin nicht ausgebrannt wirkt. Er hat viele Jahre wegen Verletzungen verpasst. Jetzt sieht er sehr genau, wo seine Chancen sind und wohin er noch will. Für ihn ist noch sehr viel möglich. Mit Bormio, wo er zweimal in den Top 5 war, kam auch das Selbstvertrauen.»
172 Weltcup-Starts, 1 Podestplatz
Murisier sagt, dass «ich mich auf jedes Training und Rennen freue. Solange ich Spass habe und kompetitiv bin, fahre ich weiter.» Er ist nun dort, wo er sein will. Oder zumindest fast genau dort. Denn der Walliser ist ambitioniert, peilt Podestplätze an. Ein solcher gelang ihm bei 172 Weltcup-Starts jedoch erst einmal, mit dem 3. Rang im Dezember 2020 beim Riesenslalom-Klassiker in Alta Badia.
Zuletzt in Wengen hatte Murisier, seit jeher ein furchtloser Draufgänger, auch Glück. Bei der zweiten Abfahrt vom Originalstart stürzte er bei hohem Tempo noch vor der ersten Zwischenzeit. Der Crash blieb ohne grössere Folgen, schon am Dienstag in Kitzbühel stand Murisier wieder auf den langen Abfahrts-Latten. «Ich liess es aber noch eher ruhig angehen. Tags darauf habe ich dann schon mehr gepusht. Es waren zwei solide Trainings. Für die zwei Rennen auf der Streif passt es.»