Keine Schuldzuweisungen von Stefan Küng nach Horror-Sturz
Auf den ersten Blick macht vieles keinen Sinn: Ein Crash mit den Absperrgittern, die quasi parallel zur Fahrtrichtung verlaufen, eine Weiterfahrt, blutüberströmt und mit kaputtem Helm, und ein Ehering, der bei der Zieldurchfahrt an der Hand war, jetzt aber fehlt. Das Vorgefallene an der Zeitfahr-EM in den Niederlanden verlangte nach einem ausführlichen Debriefing, zumal der Thurgauer mit einer Hirnerschütterung, einem Jochbeinbruch und Frakturen in der Hand einen hohen Preis bezahlte.
Das Guiding funktionierte nicht
Für den Sturz aus dem Nichts gibt es eine plausible Erklärung. «Ich bin quasi blind, ich sehe nur ein paar Meter weit», schildert Küng sein Sichtfeld, wenn er in aerodynamisch perfekter Postion auf der Zeitfahrmaschine im Flachen mit 60 km/h durch die Gegend braust. Der 29-Jährige kann das horrende Tempo nur halten, wenn er den Kopf unten hält und den Anweisungen via Funkknopf im Ohr vertraut. Der Betreuer am anderen Ende des Funks warnt vor Hindernissen, engen Kurven, sagt, wo der Athlet voll durchziehen kann, und wo er vorsichtig in die Kurve fahren muss.
Das Guiding hat in der verhängnisvollen Szene nicht funktioniert. Die Kurve führte nur leicht nach rechts. Aus dem Begleitauto kam keine Warnung - es ist wichtig, dass der Betreuer auch mal schweigt und den Fahrer in Ruhe lässt, damit dieser sich auf seine Leistung konzentrieren kann. Küng seinerseits liess sich durch die weisse Markierung am linken Strassenrand irritieren. Er folgte ihr und sah nicht, dass sie ins Absperrgitter führte, welches aufgestellt wurde, um die Rennfahrer wie mit einer Weiche auf dem Bahntrassee auf die Strasse weiter rechts zu lenken.
«Wir haben das Guiding nochmals angeschaut», sagt Küng mit einer noch gut sichtbaren Narbe an der Stirn. «Es geht alles sehr schnell, ich lege in ein paar Sekunden 50 m zurück.» Die Absprache werde mit Blick auf die Olympischen Spiele in Paris und der WM 2024 in Zürich im kommenden Sommer und Herbst nochmals verfeinert, hält der Profisportler fest. Allerdings gibt es noch in paar Fragezeichen, denn an Titelkämpfen wird er nicht vom Staff seiner Groupama-FDJ-Mannschaft gelotst, sondern wie in Emmen von Swiss Cycling. Der nationale Verband kann aber noch nicht sagen, wer von den Funktionären alles eine Akkreditierung für Paris erhalten wird.
Vom Ehering fehlt jede Spur
Keine Schuldzuweisungen macht der 29-Jährige auch zu seiner Weiterfahrt. Gemäss Reglement des Weltverbandes UCI hätte er gestoppt werden müssen, das geschah jedoch nicht. Swiss Cycling gestand den Fehler ein, der Verband hatte in den Tagen nach dem Unfall per Communiqué auch den Grund für das Versäumnis geliefert: «Ein Athlet begibt sich nach dem Sturz reflexartig wieder auf das Velo. Kommt dazu, dass man den Athleten aus dem Begleitfahrzeug nur von hinten sieht und nicht abschätzen kann, wie gravierend die Verletzungen sind.»
Der Sturz hinterliess beim Thurgauer nicht nur eine Narbe am Kopf, sondern auch einen emotionalen Schmerz. «Der Ehering ist weg», sagt Küng. «Auf den Zielfotos trage ich ihn noch am Finger, in St. Gallen, als mir der Gips entfernt wird, ist er nicht mehr da». Er habe herum telefoniert, mit den Ärzten gesprochen, bislang erfolglos. Möglicherweise sei der Ring im Spital in den Niederlanden wegen der geschwollenen Fingern sogar aufgetrennt worden. «Mir selber fehlt die Erinnerung während dieser Phase.»
Küng sitzt wieder im Sattel
Seit einer Woche sitzt Küng wieder im Sattel, er hat nach den Zwangsferien, die eine Woche später auch als normale Ferien geplant gewesen wären, das Training wieder aufgenommen - zunächst auf hiesigen Strassen, ab Dezember dann in Spanien. Paris und Zürich sind zwar im Kopf schon präsent, aber nun geht es um den Formaufbau mit Blick auf die Klassiker im Frühjahr.