Premiere in heiklem Umfeld
Bagger auf dem Gletscher - das Signum der Zerstörung, zumal in Zeiten des Klimawandels. Der Lärm der Baumaschinen sorgte für laute Nebengeräusche. Der Krach erreichte vorab für die Organisatoren in Zermatt und Cervinia unangenehme Phon-Stärke. Erklärungsversuche der örtlichen Verantwortlichen verhallten ungehört. Die Meinungen auf Seiten der Gegner waren gemacht.
Die Frage nach Sinn und Unsinn einer solchen Veranstaltung in Zeiten wie diesen wurde aufgeworfen. Von ökologischem Wahnsinn war die Rede. Es werde schlechte Werbung für den Skisport betrieben. Die Nachhaltigkeit werde ausser Acht gelassen. Der möglichen Schweizer Kandidatur für die Ausrichtung der Olympischen Winterspiele 2030 sei ein Bärendienst erwiesen worden, hiess es da.
Seit Mitte Oktober, seit Aufnahmen der schweren Geräte die Runde machten, prasselte Kritik auf den federführenden Franz Julen und seine Leute nieder, sahen sie sich im Wallis und im Aostatal mit heftigen Vorwürfen konfrontiert. Illegale Arbeiten, weil knapp ausserhalb der zulässigen Zone ausgeführt, liessen Empörung und Ärger bei den Grünen und Umweltschützern weiter wachsen. Die ersten Abfahrten des Weltcup-Winters wurden zum Politikum. Die Baukommission des Kantons Wallis ordnete zwischenzeitlich einen Baustopp an, das Gremium lieferte auch die Bestätigung für nicht erlaubte Handlungen entlang der Rennstrecke.
Die besondere Vorgeschichte
Nach den Querelen soll, so die Hoffnung von Julen und Co., in dieser und in der nächsten Woche der Sport wieder uneingeschränkt im Zentrum des Interesses stehen, soll die Premiere mit je zwei Abfahrten der Männer und der Frauen ohne Störfaktoren über die Piste gehen. Das besondere Projekt mit der besonderen Vorgeschichte soll mit einem Jahr Verspätung, nach den Absagen wegen zu hoher Temperaturen, von Anfang an überzeugen.
Die Organisatoren wollen ankommen mit ihrer aussergewöhnlichen Idee, die ursprünglich noch verrücktere Züge angenommen hatte. Einst waren da Gedanken, am Fuss des Matterhorns die längste Weltcup-Abfahrt überhaupt durchzuführen. Von fünf Kilometern Länge sprachen sie damals, vor knapp fünf Jahren, am Rande eines Treffens der Spitzen der Bergbahnen von Zermatt und Cervinia. Rund 500 Meter länger als die Lauberhorn-Abfahrt wäre die Strecke also geworden.
Es war nicht nur der Vergleich mit der Lauberhorn-Abfahrt, der Zündstoff barg. In Wengen lagen sie damals mit Swiss-Ski im Streit wegen finanzieller Abgeltung ihrer Rennen. Die örtlichen Organisatoren forderten vom nationalen Skiverband zusätzliches Geld aus dem zentralen Vermarktungstopf und provozierten damit eine vorerst undenkbare Reaktion von Seiten von Swiss-Ski. Die Verbandsführung liess die Wettkämpfe in Wengen aus dem provisorischen Rennkalender eliminieren. Schnell machten Gerüchte die Runde, das in Zermatt und Cervinia angedachte Konzept könnte dereinst als Ersatzvariante für die Lauberhorn-Rennen dienen.
Die Pläne der Walliser und Aostataler waren jedoch ganz andere und die Dementis und Beschwichtigungen entsprechend. In Wengen kehrte sechs Monate später die Ruhe zurück, nachdem der sich über vier Jahre hinziehende Zwist sogar Bundesbern erreicht hatte. Nach Gesprächen mit Bundesrätin Viola Amherd fanden Urs Näpflin, der OK-Vorsitzende der Lauberhorn-Rennen, und Swiss-Ski-Präsident Urs Lehmann einen gemeinsamen Nenner. Der Einigung lag die Zusicherung von zusätzlichen finanziellen Mitteln zugrunde. Im Gegenzug zog das Wengener OK die Klage vor dem Internationalen Sportgerichtshof CAS zurück.
Vom Gedanken einer Abfahrt mit Rekord-Länge verabschiedeten sie sich in Zermatt und Cervinia bald. Die Idee einer länderverbindenden Abfahrt jedoch liess die Verantwortlichen auf beiden Seiten des Matterhorns nicht mehr los. Die treibenden Kräfte waren Feuer und Flamme für ein noch nie dagewesenes Projekt. Die Begeisterung schwappte bald einmal über. Die Reaktionen in den Führungsgremien des Internationalen Skiverbandes FIS und von Swiss-Ski waren durchwegs positiv.
Die komplette Abfahrt
Die Macher machten sich ans Werk. Entstanden ist unter Federführung von Didier Défago, im Auftrag der FIS zusammen mit Bernhard Russi schon Verantwortlicher für den Bau der Abfahrtspiste in Yanqing für die Olympischen Spiele in Peking, eine rund vier Kilometer lange Strecke mit 935 Höhenmetern. Entstanden ist die «Gran Becca», auf deutsch «grosser Gipfel». «Gran Becca» nennt die alteingesessene Bürgerschaft der Gemeinde Valtournenche, zu der auch Cervinia gehört, das Matterhorn.
Der (Original-)Start auf der «Gobba di Rollin» befindet sich auf 3800 Metern über Meer, für die Abfahrt der Frauen etwas weiter unten, das Ziel in «Laghi Cime Bianche» auf 2865 Metern über Meer. «Wir haben eine Abfahrt geschaffen, die alle massgebenden Elemente enthält. Von Sprüngen über lange Schwünge, Gleitpassagen bis hin zu Speed-Elementen ist alles vorhanden», sagt Défago. Die Fahrzeit dürfte in etwa zwei Minuten und zehn Sekunden betragen.
Ausgangspunkt der Abfahrten ist ein ökologisches Starthaus. Die BKW Gruppe, Partnerin von Swiss-Ski und grösste nationale Verteilnetz-Betreiberin für elektrischen Strom, hat die Dachkonstruktion mit Solar-Kollektoren versehen. Dank der Weltneuheit kann die Energie dort produziert werden, wo sie benötigt wird. Dazu setzen die Organisatoren auch bei der Herstellung des im unteren Drittel der Strecke benötigten Kunstschnees und im Zielraum auf erneuerbare Ressourcen.
Diese und weitere Fakten nimmt Julen zum Anlass, den Spiess umzudrehen, den Vorwürfen zu entgegnen. «Diese Abfahrt ist eines der nachhaltigsten Rennen überhaupt. 95 Prozent der Pisten-Fläche hat bereits bestanden, zwei Drittel der Strecke befindet sich auf Gletscher beziehungsweise Naturschnee.»
Julens Worte lassen aufhorchen. Gehör finden sie nicht überall. Die Nebengeräusche sind noch zu laut.